Marianne

Die grünen Buttons haben Unterseiten

Liebe Russenkinder,


mein Bruder Wladimir, von dem ich Euch so viel erzählt habe und der noch im April in Moskau zu Eleonores Buchpräsentation dabei war, ist gestern verstorben.  Es tut unendlich weh,


Liebe Grüße


Marianne, 6. Juli 2016



Hier ist ein Brief, der als Reaktion von "der anderen Seite kam" zum Zeitungsbericht der Thüringer Allgemeinen:

Zum Brief


Die Leerstelle – Ein Besatzungskind sucht seinen Vater


Marianne Gutmann (Bonn)


Der unbekannte Vater

Hatte ich damals nicht beinahe vor ihm gestanden, vor dem unbekannten Vater? Damals, 27-jährig im Jahr 1974 im Park von Rostow am Don? War er nicht einer aus der Gruppe der Kriegsveteranen, die dekoriert mit den Orden des Zweiten Weltkriegs im Schatten eines Baumes Schach spielten? Damals hatte ich mich nicht getraut, meinem Impuls zu folgen, hinzugehen und im mühsam erworbenen und dennoch spärlichen Russisch zu fragen, ob jemand in Deutschland gewesen war im Zweiten Weltkrieg, dann nach Kriegsende als Besatzungssoldat in Stolpmünde; ob jemand aus der Gruppe vielleicht Alexander Iwanowitsch hieß und meine Mutter Wilma kannte. Aber damals erschien mir das zu verrückt, mir fehlte der Mut, meine Knie schlotterten und mein Herz raste, sie ließen mich wie gelähmt stehen.

Der Mut, der mir damals gefehlte hatte, kam erst viele Jahre später, nach vielen vergeblichen Anläufen des Suchens – und nicht ganz aus eigener Kraft, sondern mit Hilfe und auf Druck meiner Freunde. Und noch sehr viel mehr war nötig. 26 weitere Jahre sollten vergehen, und nicht einfach nur verstreichen.















































Erste Hinweise

Es war mein Cousin, der mir eröffnete – ich war damals vielleicht 14 oder 15 Jahre alt –, ich sei ein uneheliches Kind und, schlimmer noch, ein Russenkind, das Kind eines Rotarmisten. Immerhin, so meinte er tröstend, der Russe sei Offizier gewesen, die Beziehung zu meiner Mutter ein eher liebevolles Verhältnis gewesen, keine Vergewaltigung. Er wisse es von seiner Mutter, der sei es von meiner Mutter erzählt worden. Mein Herz raste in diesem Augenblick und mir war zum Heulen. Doch schon damals konnte ich meine Gefühle beherrschen.

Gut, mir war bewusst, dass der neue Ehemann meiner Mutter – sie hatte ihn kennengelernt, da war ich bereits vier Jahre alt – mich an Kindes statt angenommen hatte. Aber meine Mutter war doch Witwe gewesen und ich das Kind des gefallenen Ehemannes! Bis zu ihrer neuen Verheiratung hatten wir beide denselben Namen, Wirt, getragen! Komisch nur, dass sie nie von ihm sprach, weder Fotos von ihm gab noch irgendeine Information oder Verwandte von der vermeintlichen väterlichen Seite. Aber nach Krieg und Flucht aus Ostpreußen war sowieso alles durcheinander.


Da war schon immer etwas Komisches mit mir gewesen. Ich hatte nämlich, solange ich mich erinnern kann, ein ganz seltsames Gefühl, mit mir sei etwas nicht in Ordnung, irgendwie gehöre ich nicht richtig dazu, werde seltsam gemustert von der Verwandtschaft, die ab und zu unseren kleinen Haushalt besuchte, bestehend aus meiner Mutter, der Oma und mir. Als meine Mutter mich dann einmal mitnahm, um mich in der Grundschule anzumelden, wurde ich aus dem Zimmer geschickt, durfte bei dem Gespräch zwischen dem Lehrer und meiner Mutter nicht anwesend sei. Warum nicht? Eine Großtante brachte einmal ein Foto mit, das meine Mutter in Begleitung eines Mannes damals in Ostpreußen noch vor dem Krieg zeigte. Ganz beglückt dachte ich damals, das könnte mein Vater sein und fragte Tante Anna: Ist das mein Vater? Da war ich vielleicht fünf Jahre alt. Tante Anna guckte mich mit, wie mir schien, entsetzten Augen an und sagte kein Wort. Da war mir ganz klar, dass ich diese Frage nie wieder stellen dürfte, und daran hielt ich mich. Selbst als ich,

vielleicht zwölfjährig, nachdem meine Mutter wieder geheiratet hatte und es einen kleinen Bruder gab, das Familienbuch im Kleiderschrank fand, zwischen Sachen, die ich zum Verkleiden gesucht hatte. Was ich sah, war für mich ein Schock. Zunächst gab es da die Seiten für das Ehepaar Bernd und Wilma, bei ihr waren der Mädchenname und der Witwenname hinzugefügt worden, dann folgte die Seite für das gemeinsame Kind, für meinen kleinen Bruder. Eigentlich hätte ich als die Ältere zuerst genannt werden müssen, aber ich sah ein, dass er als gemeinsames Kind Vorrang hatte. Das schmerzte nur ein wenig, und, vernünftig wie ich war, akzeptierte ich für mich diesen Umstand. Schließlich war ich nur ein angenommenes Kind. Und dann folgte die Sparte mit den angenommenen Kindern aus möglichen früheren Ehen. Jetzt hätte meine Seite kommen müssen!  Aber es folgten, da die Familienbücher damals Vordrucke für etwa zehn Kinder bereithielten, jede Menge leerer Seiten. Nichts, mich gab es nicht! Und ganz zum Schluss war eine Seite mit Platz für adoptierte Kinder aus unehelichen Beziehungen. Hier standen meine Vornamen, mein Geburtsdatum, ein Nachname, den ich bis dahin nur als den meiner Oma gekannt hatte, der Geburtsname meiner Mutter. Und dann: Vater unbekannt. Ich fühlte mich vernichtet, belogen und betrogen. Mein Körper war ein einziges Herzklopfen, alle Kraft war nötig, die Tränen und das Schluchzen zurückzuhalten. Das Wichtigste war für mich in dem Augenblick nur, das alles zu verbergen. Mit diesem Wissen war ich nun einige Jahre allein auf mich gestellt gewesen, bis ich, nachdem mich mein Cousin mit dieser Wahrheit konfrontiert hatte, wagte meine Mutter zu fragen.


Endlich ein Name

Sie gab gern Auskunft über einen gewissen Alexander Iwanowitsch, erzählte freundlich von ihm, hatte ihn gemocht und die ungeplante und gar nicht passende Schwangerschaft nach zwei kinderlosen Ehen und zweifacher kriegsbedingter Witwenschaft als Grund zum Überlebenwollen nach Krieg und Flucht gedeutet. Einen guten Charakter habe er gehabt, habe sich für den Schutz deutscher Frauen eingesetzt, sei gebildet gewesen und humorvoll. Er habe ihr ein Foto mit seiner Adresse auf der Rückseite überlassen.

Meine Mutter hatte wohl schon länger auf meine Frage nach dem Vater gewartet und geglaubt, sie täte gut daran, mir die Initiative zu überlassen. Was sie nicht wusste, war, dass Kinder nicht wie kleine Erwachsene selbstbestimmt fragen, sondern auf das reagieren, was sie unbewusst und halb bewusst aus ihrer Umgebung heraus erspüren. Ich musste nämlich ihr Geheimnis mittragen. Denn meine Mutter hatte, um ihr Kind vor dem zu schützen, was in den Nachkriegsjahren und noch lange Zeit danach an Intoleranz, Vorurteilen und Ablehnung bis hin zum Hass – immerhin war ich ein Kind des Feindes – verbreitet war, mich gegen das Gesetz unter falschem Namen, ihrem Witwennamen, überall angemeldet und vorgestellt. Sie muss um Verständnis regelrecht gebettelt haben, zumindest bei der Verwandtschaft ihres an Kriegsfolgen verstorbenen Ehemannes. Es ging um Erbstreitigkeiten. Vermutlich fürchtete meine Mutter, ihre Erbansprüche zu verlieren. Sie kämpfte, schließlich könne das Kind doch nichts dafür, die Androhung wurde schließlich zurückgezogen. Und die Lehrer meiner Grundschule spielten mit. Welch weise Entscheidung zur Lüge: Sie wollte nicht, dass durch unsere unterschiedlichen Nachnamen alle Welt weiß, dass ich kein eheliches Kind war und so Fragen nach dem leiblichen Vater gedroht hätten. Eine Flüchtlingsfrau mit einem Kind ohne Vater – da wusste man doch Bescheid!

Einmal, so erzählte meine Mutter später, habe eine Frau sie gefragt, wie sie denn eigentlich zu ihrem Kind gekommen sei, und sie habe geantwortet, „so wie Sie zu Ihrem.“ Dass ich endlich einen Namen und ein paar Informationen hatte, war aufregend und beruhigend zugleich, auf jeden Fall wohltuend. Das Thema Vater Alexander Iwanowitsch blieb ein Geheimnis zwischen meiner Mutter und mir. Mit meinem Stiefvater oder meinem Bruder habe ich darüber nicht gesprochen.


Ohne Tabu

Mein Studium begann inmitten der großen Umwälzung damaliger Selbstverständlichkeiten. Die kulturelle Revolution der 68er entdeckte Offenheit und Austausch, meine Herkunft musste nicht mehr verschwiegen werden, war für viele eher interessant geworden. Damals hatte ich einen Traum: Ich wollte, überzeugt, dass es doch noch mehr von meiner Sorte geben müsse, andere Kinder aus dieser Kriegskonkursmasse finden; wollte sie nach ihrem Schicksal befragen und dieses Wissen in ein Buch oder eine Diplomarbeit einfließen lassen. Daraus wurde damals nichts, ich fand niemanden, und mir fehlten Mut, aber auch jeglicher Plan, wie ich ein solches Vorhaben in Angriff nehmen könnte. Heute verstehe ich, dass ich nicht allein sein wollte mit meinem Schicksal. Jedenfalls konnte ich mit Freunden über dieses Thema sprechen, und sie meinten, ich könnte doch nach meinem Vater suchen. Ja, eine gute Idee, aber wie sollte das gehen? Meine Mutter hatte mir den Vornamen und Vatersnamen genannt, Alexander Iwanowitsch, sogar den Dienstgrad hatte sie sich gemerkt. Aber das Foto mit Geburtsdatum und Adresse auf der Rückseite war unwiederbringlich von der Oma vernichtet worden. Das Kind hatte ja einen Vater bekommen. Der Gedanke, meinen leiblichen Vater auffindig zu machen, mehr als nur Namen und Dienstgrad über ihn in Erfahrung zu bringen, hatte sich eingenistet. Zumindest wollte ich das Land kennenlernen, aus dem mein Vater stammte. Vielleicht würde ich ihn ja erkennen, wenn er mir zufällig über den Weg lief. 1974 fuhr ich mit einer Gruppe von Freunden Tausende von Kilometern per Auto von Berlin bis Jerewan. Verrückt! Ebenso wie die Idee, ich müsste doch leicht die russische Sprache

erlernen. Bis heute keine Chance. Es war eine interessante schöne Reise, die Szene in Rostow am Don ist bis heute lebendig in meiner Erinnerung.


Das Ziel

Aus dem verrückten Wunsch wurde ein Ziel, aber das war erst möglich geworden, nachdem meine Mutter sich an den Nachnamen des Alexander Iwanowitsch erinnert hatte. Da war ich 50 Jahre alt. Mein Stiefvater war gerade verstorben. Oder hatte sie, solange mein Stiefvater, der mir ein guter Vater sein wollte, noch gelebt hatte, ihm ersparen wollen, dass ich nach einem anderen Vater

suchte? Wollte sie gar verhindern, dass ich ihn tatsächlich fand und – er war ja schließlich verheiratet gewesen damals – seiner Ehefrau Unglück brachte? Es hätte zu ihr gepasst. Jedenfalls, sein Nachname war Grabaurow.

Nun erschien es mir nicht mehr verrückt, Suchbriefe zu verschicken: an das Internationale Rote Kreuz, das Museum der Roten Armee in Karlshorst, die Deutsche Botschaft in Moskau, die Botschaft Russlands in Bonn, an unseren Botschafter in Moskau persönlich, das Archiv der Roten Armee in Podolsk. Im Internet seinen Namen immer wieder eingeben, das konnte ich selbst tun. Aber da kam ich nicht weiter. Einen W.A. Grabaurow fand ich zwar, er war Autor eines Artikels in einer polnischen Zeitschrift. Ich konnte damit jedenfalls nichts anfangen.


Falls ich überhaupt eine Antwort bekam auf meine Anfragen, war sie mit der Aufforderung verbunden, ich möge doch Geburtsdatum und die Adresse angeben, dann könne man mir eventuell weiterhelfen. Tapfer schrieb ich immer wieder zwischen 1999 und 2005 Suchanfragen. Ich bat unseren Botschafter in Moskau, mit diesem Thema doch einmal bei seinen russischen Kollegen vorstellig zu werden. Es müsste doch noch viel mehr Kinder von Rotarmisten in Deutschland geben, auch Kinder von Wehrmachtssoldaten in der ehemaligen Sowjetunion, das wäre doch ein spannendes, ertragreiches und lohnenswertes Thema für die Friedensentwicklung in Europa. Ich sei bestimmt nicht allein, und irgendwann würden sich sogar Historikerinnen und Historiker für uns interessieren. Ich ahnte nicht, dass ich hier prophetisch begabt war. Doch dazu später.

Der Botschafter antwortete mir umgehend und sehr verständnisvoll, aber auf russischer Seite sei das Thema zu brisant, die Zeit dafür noch nicht reif. Mein Kollege und Freund Uwe machte mich dann auf das Ludwig-Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Wien aufmerksam, das war im Jahr 2009. Ich schrieb es an und bat um Hilfe, bekam lange Zeit keine Antwort. Später stellte sich heraus, dass meine E-Mail monatelang ungeöffnet geblieben war.

Aufrüttelndes und Motivierendes kamen unverhofft: Meine Schulfreundin Anne rief mich an, sie müsse mir etwas erzählen. Es hatte sich eine Frau bei ihr gemeldet, die sich als ihre bis dahin nicht existente Schwester zu erkennen gab, die Kriegs- und Nachkriegsumstände hätten hier eine entscheidende Rolle gespielt. Meine Freundin beschrieb die Explosion ihrer Gefühle und gab mir eindringlich den Rat, die Suche nach meinem Vater noch einmal in Angriff zu nehmen, die Zeit zu nutzen. Gut, es musste ein Detektiv her, der für mich und gegen die Zeit arbeiten sollte.


Das Gesicht zum Namen

Jetzt kommt die Wissenschaft ins Spiel: Ein Historiker übernahm die Detektivrolle, bekam einen Werkvertrag mit dem Ziel: finde A.I. Grabaurow! Geübt in Recherchen, mit entsprechenden Kontakten und Russischkenntnissen begann er seine Arbeit, und binnen kürzester Zeit wurde er fündig. Er hatte die Idee, mit einem Namensforscher in Russland zusammenzuarbeiten. Man könne schauen, ob der Name Grabaurow in einer bestimmten Region besonders häufig vorkomme und dann dort weitersuchen. So fand er Personen mit diesem Nachnamen: genau zwei, Vater und Sohn, beide lebten in Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland. Beide wurden angeschrieben und gefragt, ob jemand aus der Verwandtschaft namens Alexander Iwanowitsch Grabaurow als Angehöriger der  Roten Armee in Deutschland stationiert gewesen sei, in Stolpmünde, denn dort hatte meine Mutter meinen Vater kennengelernt. Beide bestätigten, ja. Der Eine sagte ja, mein Großvater, der Andere ja, mein Vater. Aufgeschlossen und kooperativ schickten sie ein Foto des Vaters/Großvaters. Und ja, sie wollten Kontakt zu mir aufnehmen.

Da war er nun, der erste Moment, dass ich meinem Vater leibhaftig vor mir sah, wenn auch nur auf einem Foto. Zu meiner Überraschung erschien er mir vertraut, vom ersten Augenblick an. Ich kannte ihn – vom Blick auf mein eigenes Spiegelbild. Er war mir ähnlich – oder ich ihm. Ich druckte das Foto aus, packte es in einen Umschlag und schickte es meiner Mutter. Am nächsten Tag rief ich sie an: Geh mal an den Briefkasten, nimm den Umschlag, setz dich irgendwo bequem hin, öffne den Umschlag. Sie gehorchte, und ihre ersten Worte waren: „Du lieber Gott“, auf Russisch. Vor Aufregung war ich tagelang wie gelähmt, wollte schreiben und konnte nicht. Schließlich gelang es mir, an den Sohn eine knappe E-Mail mit meinem Anliegen zu formulieren, dass nämlich meine Mutter damals 1946 in Stolpmünde von A.I. Grabaurow schwanger geworden, ich dieses Kind sei und meinen Vater suche. Sie sollen keine Sorge haben, ich stelle keinerlei materielle Ansprüche. Und dann erhielt ich die erste E-Mail. Sie war von Wladimir Alexandrowitsch, übersetzt: Wladimir, Sohn des Alexander. Die ersten Sätze waren auf Englisch. Sein Sohn Sergej habe meinen Brief ihm immer und immer vorgelesen, und er sei „under greatest impression“. Dann folgte ein langer Text in Kyrillisch. Die Anrede konnte ich verstehen: „Mein liebes Schwesterchen!“ Ich war ein Schwesterchen!


Meine russlanddeutsche Ärztin sollte mir helfen. Sie schaute unter Tränen auf den Brief, nahm ihn mit, und am nächsten Morgen fand ich die in Nachtarbeit übersetzte E-Mail. Ich hatte also einen großen Bruder namens Wladimir in Russland, sechs Jahre älter als ich. Ich erfuhr, dass sein Vater, unser Vater, 1986 verstorben war, dass zur Familie Wladimirs seine Ehefrau Tatjana, genannt Tanja, die erwachsenen Kinder Sergej und Olga sowie Sergejs kleiner Sohn Igor gehörten. Seit 1991 lebte die Familie in Minsk. Und dann stand dort: „Vorher lebten wir in Rostov am Don“! Wie gern hätte ich die Zeit zurückgedreht ins Jahr 1974! Wieso war es plötzlich so einfach, die beiden Träger des Namens ausfindig zu machen? Wieso gab es in dem riesigen Russland nur zwei davon, die zumindest im Internet ihre Spuren hinterlassen hatten und auffindbar waren? Die Antwort lautete: Der Name Grabaurow ist ursprünglich ein deutscher Name! Mein Freund Uwe meinte dazu: „Ist doch klar, schau doch einfach:  Gra-baur-ow. Das ow ist ein russisches Anhängsel, davor steht Bauer, davor Gra… .“ So war es auch, Großbauer war der ursprüngliche Name, geläufig im Burgenland und möglicherweise zu Zeiten der deutschen russischen Zarin Katharina, genannt Die Große, nach Russland eingewandert. Ich erfuhr, dass der Vater über diese deutsche Herkunft seiner Familie geschwiegen und alle Hinweise darauf verborgen hatte. Erst kurz vor seinem Tod und lange nach Stalins Tod hatte er dem Sohn sein Geheimnis gestanden. Sieben der acht Geschwister von Alexander hatten den Krieg nicht überlebt, einige waren verschollen, verbannt oder erschossen worden wegen des deutschen Namens.

Es stand außer Zweifel, dass Wladimirs Vater auch mein Vater war, denn der Ort Stolpmünde, die Zeit, alle Angaben passten. „Ich bin sehr glücklich, dass Du mich gefunden hast, ich habe jetzt eine Schwester, ich möchte, dass wir uns und unsere Kinder kennenlernen und hoffe, dass wir uns unbedingt treffen, egal wo. Und selbstverständlich möchte ich unbedingt deine Mutter kennenlernen. Sie ist für mich wie eine Botschaft deines Vaters.“ Das war der letzte Satz. Ich organisierte so schnell wie möglich, dass er mich besuchen konnte, was bei den politischen Verhältnissen ein ziemliches Unterfangen bedeutete, aber er bekam ein Visum. Inzwischen fuhren meine Gefühle Achterbahn. Mir war klar, es handelte sich zwar um meinen Halbbruder, aber letztlich um einen mir völlig unbekannten Menschen, aufgewachsen mit einer anderen Sprache und völlig anderen Lebenserfahrungen. Ich habe bereits einen Halbbruder, zehn Jahre jünger, aber groß geworden waren wir gemeinsam! Wie sollten wir uns verständigen? In welcher Sprache? Ein wildfremder Mann sollte einige Tage bei mir wohnen! Da waren nicht nur Freude und Glück, auch Skepsis und Angst vor der eigenen Courage machten sich breit. Ich zweifelte plötzlich, ob das alles wirklich so eine gute Idee war. Aber auf dem Foto sah er zumindest sympathisch aus, und ich wusste, er war Wissenschaftler. Aber was mag das schon heißen?

Voller Aufregung wartete ich auf den Tag der ersten Begegnung. Mit stundenlanger Verspätung kam endlich der Zug aus Minsk in Köln an. Wir erkannten einander sofort und fielen uns einfach in die Arme, strahlten uns an und freuten uns. Mit uns freuten sich meine Freundinnen und Freunde, die wir besuchten und zu mir einluden. Und dann kam der Höhepunkt: der Besuch bei meiner Mutter. Wladimir hatte uns Fotos von seinem bzw. unserem Vater mitgebracht, sogar eine DVD mit der Kopie eines alten Films, auf dem zu sehen war, wie Alexander als älterer Mann mit seinem Sohn Wladimir und seinem kleinen Enkel Sergej im Park von Rostow am Don spazieren ging. Genau in dem Park, in dem ich Jahre zuvor gestanden hatte!

Meine Mutter und Wladimir mochten sich auf Anhieb. Meine Mutter sprach leidlich gut Russisch, und sie unterhielten sich, ich stand daneben und staunte. Später erzählte mir Wladimir, dass er ein nicht sehr gutes Verhältnis zu seiner eigenen Mutter gehabt hatte und auch das Gefühl nicht loswurde, sein Vater sei nicht glücklich mit seiner Ehefrau gewesen. Seine Eltern hätten nicht sehr gut zueinandergepasst. Er machte in seiner Fantasie aus meiner Mutter die große Liebe seines Vaters und akzeptierte mich als das Produkt dieser Liebe. Ich weiß ja nicht so recht. Meine Mutter hatte sich nicht sehr oft mit Alexander Iwanowitsch getroffen, so kann es wohl nicht gewesen sein, aber gut, wer weiß es, wir waren beide nicht dabei. Jedenfalls war es offensichtlich, dass ich dem Vater ähnlich sah und Wladimir seiner Mutter. Ich muss sagen, das erfüllte mich mit einiger Genugtuung, da spürte ich sofort eine Geschwisterrivalität. Ich erfuhr, dass der Vater während einer Operation im Jahre 1986 verstorben war, 77 Jahre alt. 1974, dem Jahr meiner Vatersuche-Reise, lebte die Familie in Rostow am Don, in der Stadt, die ich damals auch aufgesucht hatte. Was Wladimir über seinen Vater, seinen Charakter erzählte, hat mir gut gefallen, und es tat weh, dass ich ihn nicht habe kennenlernen dürfen.

Mein jüngerer deutscher Bruder machte mich auf einen ganz anderen Aspekt aufmerksam. Er sagte: „Was soll das alles? Gut, Du weißt jetzt etwas über den biologischen Vater, deinen Erzeuger. Na und? Der wusste noch nicht einmal, dass es dich gibt, hat sich nie gekümmert. Aber wer hat dich denn tatsächlich großgezogen, wer war denn für dich da?“ Recht hatte er. Und dennoch: Eine meiner ersten Taten, nachdem ich Fotos von Alexander Iwanowitsch erhalten hatte, war folgende: Ich schnitt ein kleines Foto aus und klebte es in den Stammbaum, den ich für unsere Familie angefertigt hatte. Endlich war die Leerstelle gefüllt. Mein Vater hatte einen Namen und ein Gesicht.


Als Wladimir nach seinem ersten Besuch nach Minsk zurückreiste, saßen wir Abschied nehmend auf dem Bahnsteig, neben uns ein Zeitungskiosk. Die Schlagzeile einer Boulevardzeitung passte ganz gut zu unserer Geschichte: Bruder und Schwester treffen sich nach 60 Jahren zum ersten Mal. So oder ähnlich lautete der Aufmacher. Das hätte auch unsere Geschichte sein können. Ich wunderte mich leicht empört, wie man eine solch private Geschichte in einer Zeitung bringen kann. Heute wundere ich mich nicht mehr. Doch dazu später.

Mein Gegenbesuch in Minsk folgte wenige Monate später. Wladimir holte mich mit dem Auto am Flughafen ab, an der Wohnungstür wartete die gesamte Familie, ich wurde umarmt, herzlich willkommen geheißen. Es gab ein Festessen und danach die Nacht lang Erzählen und Betrachten von Fotos, auch vielen Fotos aus den Kriegsjahren, auch aus dem zerschossenen Berlin, aufgenommen von sowjetischen Soldaten. Wie das für mich als Deutsche sei, wollte Sergej wissen. Olga, Dozentin an der Universität, sprach glücklicherweise perfekt Englisch und hatte einen schweren Job ohne Pause. Ich fühlte mich herzlich aufgenommen. Ich schlief auf der Couch im Wohnzimmer, mir gegenüber eine schöne große Standuhr aus dem Schwarzwald. Kriegsbeute?

Der Familienrat hatte beschlossen, mir etwas zu vererben; ich bekam ein Set mit drei kleinen versilberten Trinkkelchen, die mit eingravierten Initialen unserem Vater zu einem Jubiläum geschenkt worden waren. Die Familie schenkte mir einige Originalfotos sowie die Kopie von handschriftlichen Aufzeichnungen von Alexander Iwanowitsch über sein Leben bis zum Jahr 1945. Sein Leben, von seiner Geburt 1909 bis zum Kriegsende, spiegelt die russische Geschichte.


Von unserer ersten Begegnung bis heute waren Wladimir und mir sieben Jahre vergönnt. In fünf davon haben wir uns mehrmals getroffen, uns gegenseitig besucht. Wladimir zeigte mir seine Heimat, ich ihm meine, wir diskutierten viel. Seitdem bin ich sehr vorsichtig geworden, andere Menschen zu beurteilen. Zum Glück besaß Wladimir ein Visum für die EU, weil er häufig an wissenschaftlichen Konferenzen teilnahm. Und ganz am Rande: Wladimir ist der Verfasser jenes Artikels in der polnischen Zeitschrift. Ich hatte ihn im wahrsten Sinne des Wortes bereits jahrelang auf dem Schirm.

Unsere letzte Begegnung fand im Rahmen eines Treffens von anderen Russenkindern aus Österreich in Moskau statt. Anlass war die Vorstellung eines Buches von Eleonore Dupuis, die ihr Leben lang um ihre Herkunft aus einer Liebesbeziehung ihrer Mutter zu einem Sowjetsoldaten wusste und ein sehr berührendes Buch über ihre – letztlich ergebnislose Suche – nach ihrem Vater geschrieben hat.1 Ich wollte dabei sein, und auch Wladimir ließ es sich nicht nehmen, mit dem Nachtzug aus Minsk zu kommen; am Abend fuhr er wieder zurück. Das war am 26. April 2016, Eleonore signierte mir ihr Buch mit den Worten „Die Wurzeln zu kennen ist wichtig!“ An diesem Tag sahen Wladimir und ich uns das letzte Mal. Kurz danach ist er ganz plötzlich verstorben, mit 75 Jahren, fast in demselben Alter wie sein Vater. Geblieben sind der Kontakt zu seiner Tochter, meiner Nichte, inzwischen in Indien verheiratet, und die Erweiterung meiner Familie um den indischen angeheirateten Neffen. Mein Leben bekam durch die Vatersuche und das Finden eines Halbbruders eine heftige Wendung: die Erweiterung der Familie, das Kennenlernen einer fremden Welt, Reisen, auf die ich sonst nie gekommen wäre, neue Themen, Sichtweisen und Informationen.


Man kommt ins Nachdenken: Wie kann es sein, dass ein wildfremder Mensch, nur weil man im Kopf das Wissen hat oder vielleicht auch nur den Glauben, mit ihm verwandt zu sein, einem so nahekommt? Wie kann es sein, dass man zu diesem Menschen Vertrauen aufbaut, sich ihm verbunden fühlt, den Wunsch verspürt, ihn wiedersehen zu wollen? Wie entstehen die herzliche Akzeptanz, das Wohlwollen, die Zuneigung, Neugier und Toleranz sowie Intimität? Meine Mutter, gefragt, wieso das Alles in heftiger Gefühlsturbulenz auf einen einstürzt, fand es ganz selbstverständlich. „Ganz einfach, Du bekommst ein neues Familienmitglied. Und wirst selbst eins.“ Im Grunde wie bei einer Geburt. Es scheint so zu sein, dass ein Schalter im Kopf auf Zuneigung und Zugehörigkeit umgelegt wird, wenn man weiß, mit jemandem verwandt zu sein. Ob dieser Schalter in der Stellung verbleibt, stellt sich im Laufe der Zeit heraus. Wir wissen ja, dass auch in verwandtschaftlichen Beziehungen alles Menschliche möglich ist, gar bis zu Mord und Totschlag.


„Russenkinder“

Die Vatersuche hat noch eine ganz andere Tür in meinem Leben aufgestoßen. Durch den Kontakt zum Ludwig-Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung konnte ich 2012 an einer Tagung in Wien zum Thema Besatzungskinder des Zweiten Weltkrieges teilnehmen.2 Die Vortragenden entwarfen Fragestellungen, in denen ich mich einerseits wiederfand, andererseits war ich mit Dimensionen konfrontiert, die weit über mein persönliches Schicksal hinausgingen. Es ging unter anderem um das Aufwachsen dieser Kinder des Krieges, den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit dem Thema und die Unterschiede in den verschiedenen Besatzungszonen. Die Vaterlosigkeit war ebenso Gegenstand der Tagung wie die Herkunft der Kinder als Kinder des Feindes. Und das betraf in besonderem Maß die Kinder von Sowjetsoldaten, die sogenannten „Russenkinder“. Mein individuelles Schicksal war plötzlich nicht mehr einzigartig, sondern eines von vielen. Viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer trieb ein großes Bedürfnis um: Ich will meinen Vater finden, ich will wissen, von wem ich abstamme. Und ich will erzählen dürfen, wie meine Umwelt mit mir umgegangen ist, denn ich gehöre zu einer bisher unsichtbaren Gruppe. Die Wissenschaft, die historische, politische und psychologische, hatte das Thema bereits einige Jahre vorher für sich entdeckt und zu beforschen begonnen. Eine Arbeitsgruppe des Universitätsklinikums Leipzig entwickelte zum Beispiel 2013 das Forschungsprojekt „Besatzungskinder: Identitätsentwicklung, Stigmatisierung und psychosoziale Konsequenzen des Aufwachsens als Besatzungskind in Deutschland“ und suchte Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ihre Studie. Daran beteiligt und für Interviews zur Verfügung gestellt, hatten sich 164 Personen, neun von ihnen, allesamt „Russenkinder“, wurde die Möglichkeit gegeben, sich über das Zwischenergebnis im Rahmen eines Treffens der Forschungsgruppe in Leipzig zu informieren. Die in der Studie untersuchten Themenfelder „Lebensbedingungen in Kindheit und Jugend“, „Wissen über die Herkunft und die Identität als Besatzungskind“, „Ungünstige Kindheitserfahrungen“, „Heutige psychische und körperliche Beschwerden“, „Beziehungsgestaltung“ wurden bei uns Zuhörerinnen und Zuhörern lebendig. Das waren unsere Themen! Wir diskutierten über all die Dinge, die uns auf dem Herzen lagen, über unsere Biografien, unsere Erlebnisse mit diesem Thema.  Wie in einer psychologischen Selbsterfahrungsgruppe öffneten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wuchsen zusammen, nannten sich „Wurzelgeschwister“, „Russenkinder“, „Distelblüten“. Die intensiven Emotionen beim Erzählen und Zuhören, das Mitgefühl, das Verständnis, die Ehrlichkeit und Erfahrungsdichte unserer gemeinsamen Erzählungen machten es möglich, über die Ausgrenzungen, das Leid, die Scham und Angst, die Verletzungen und Überlebensstrategien zu sprechen. Für einige war es das erste Mal. Wir waren dabei ganz unter uns, nur Betroffene, ohne Leitung oder Beobachtung. Es gab auch irritierende Momente. Einige kannten den Namen ihres Vaters, besaßen sogar ein Foto, durften glauben, die Umstände hätten ihn gehindert, ein anwesender Vater sein zu können, lebten in dem Glauben, Kinder einer Liebesbeziehung zu sein. Aber was war mit denen, die aus einer Vergewaltigung stammten? Ich erzählte recht stolz von der Beziehung von Wilma und Alexander, neben mir Winfried, dessen Mutter vergewaltigt worden war. Plötzlich schämte ich mich. Woher nahm ich mir das Recht, stolz sein zu dürfen? Wir alle konnten nichts dafür, im Grunde verboten sich Scham und Stolz gleichermaßen. Aber Gefühle haben ihre eigene Logik, sie sind einfach da. Aus diesen Gesprächen entstand die Idee, unsere Lebensgeschichten aufzuschreiben. Winfried Belau erbot sich, sie in einem Büchlein im Selbstverlag ungefiltert und nicht redigiert in einer winzigen Auflage für uns und Interessierte zusammenzutragen. So entstanden die „Distelblüten“3. Doch bereits da überkam uns der Gedanke: Wären unsere Geschichten, von uns erzählt nicht nur von persönlichem und wissenschaftlichem Interesse, sondern auch relevant für eine breitere Öffentlichkeit? Winfried fragte bei mehreren Verlagen an: kein Interesse. Das Anliegen sei ohne Relevanz, war die Antwort.

Doch zwei scherten aus. Das waren der Historiker und Journalist Mathias Mesenhöller und der Fotograf Andreas Nestl von der Zeitschrift GEO. Auf Grundlage von Interviews verfassten beide einen Artikel in der GEO mitsamt Porträtfotos von uns Distelblüten. Dieser Beitrag ist aus vollem Herzen geschrieben, und dementsprechend war die Resonanz bei der Leserinnen- und Leserschaft. Der Artikel war zudem der Auftakt, unsere Geschichte in Rundfunk, Fernsehen und Tageszeitungen zu thematisieren. Wir, die versteckte oder aber öffentlich diskriminierte Gruppe, wurden nun sichtbar und mitfühlend verstanden.

Meine vor gar nicht so langer Zeit gehegte Meinung, meine persönliche Vatersuche ginge keine anonyme Öffentlichkeit etwas an, musste ich revidieren. Die Empathie, das menschliche Interesse und die Resonanz der Zuhörerinnen und Zuhörer sowie Leserinnen und Leser waren wohltuend und heilend. Und unser Beispiel machte nicht Wenigen Mut, über ihr eigenes Schicksal zu sprechen oder die eigene Verwandtschaft zu erforschen. In Kombination mit dem 70. Jahrestag des Kriegsendes und einer Vielzahl von Tagungen zum Thema5 wuchs das mediale Interesse an unseren Geschichten rasant. Tageszeitungen druckten Interviews, Radio- und Fernsehsendungen strahlten entsprechende Programme aus. Wir, die menschlichen Blindgänger des Zweiten Weltkrieges, erfuhren sehr viel Interesse, Anteilnahme und Verständnis. Zunächst unter einem Pseudonym, dann unter meinem zweiten Vornamen wurde auch meine Geschichte unter großer Anteilnahme medial verhandelt. Lesungen und Diskussionsveranstaltungen häuften sich. Allmählich erschien ich zu solchen Anlässen mit meinem vollen Namen.

Wir dachten, dieser Hype würde sich schon bald wieder legen, aber noch heute entstehen neue Themen und Aktionsfelder. Hilfe bei der Vatersuche bleibt eines, die Kooperation mit den anderen Children of War, den Wehrmachtskindern, den Franzosen- oder GI- Kindern ein anderes. Und leider ist das Thema nach wie vor von erschreckender Aktualität, auch heute kommen immer noch neue Kinder des Krieges zur Welt.


Seit einiger Zeit finden die Treffen der Russenkinder einmal im Jahr in Leipzig statt, im Jahr 2017 bereits zum vierten Mal, da waren wir 18 Teilnehmende. Die Verfasserinnen und Verfasser der Studie von 2013 lassen es sich nicht nehmen, uns zu besuchen und teilweise zu begleiten. Es kommen immer neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit ihren Schicksalen hinzu. Jemand stellte die Frage: „Sind wir uns eigentlich ähnlich?“ Die Antwort war eindeutig: nein! Wir sind so unterschiedlich, wie es eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe nur sein kann. Aber wir sind trotzdem auf eine bestimmte Weise miteinander verbunden. Wir sind verwandt aufgrund einer gemeinsamen Situation, vaterlos und in irgendeiner Weise ausgegrenzt worden als Kinder vom Feind.


Psychologischer Exkurs

Als Psychologin mit nun langjähriger therapeutischer Praxiserfahrungen möchte ich an dieser Stelle versuchen, meine Geschichte in einen breiten Kontext zu stellen und meine Geschichte, meine Erlebnisse und Erfahrungen aus Perspektive meiner Disziplin in den Blick zu nehmen. Neuere psychologische Forschungen gehen davon aus, dass Stressfaktoren bereits während der Schwangerschaft das Ungeborene in seiner pränatalen Phase beeinflussen. Menschen achteten seit jeher darauf, Schwangere auch vor seelischen Belastungen zu schützen. Wie sollte das in Kriegs- und Nachkriegszeiten, nach Vergewaltigungen und anders belasteten Beziehungen überhaupt möglich sein? Was aber ist denn besonders an der Vaterlosigkeit von Besatzungskindern? Schließlich können doch unzählige Umstände ein Aufwachsen ohne Vater bedingen. Zweifelsohne gibt es bei Russenkindern eine spezifische Gemeinsamkeit: die Scham über die verschwiegene Vergangenheit und die erlebte alltägliche Ausgrenzung. Die Folgen einer extremen sozialen Ausgrenzung durch Lieblosigkeit, Diffamierung, Verhöhnung und Gewalt in Kinderheimen sind jeder und jedem von uns leicht vorstellbar. Und dann ist da noch die Verschandelung von außen: Der Rotarmist, der die Mutter seines gezeugten Kindes heiraten will, wird nach Sibirien versetzt; die Mutter wird als sogenannte Russenhure diffamiert; das Kind – die NS-Rassenideologie saß in den Köpfen der Menschen – zum minderwertigen Kretin. Das weitere Lebensschicksal eines solchen Kindes wird damit massiv und nachhaltig geprägt. Es braucht viel Kraft und nicht zuletzt enormes Glück, sich davon zu befreien.

Aber bereits die vergleichsweise harmlose oder sogar gut gemeinte Ausgrenzung eines bestimmten Wissens kann für die Betroffenen gravierende Folgen haben. Aus psychologischer Perspektive sind Kinder Erwachsenen nicht gleichwertig; sie können nicht alles verstehen, brauchen kindgemäße Antworten auf ihre Fragen und kindgemäße Informationen, die Frageverbote gar nicht erst entstehen lassen. Jeder Mensch hat zudem das Bedürfnis, gesehen und akzeptiert zu werden. Zuwendung und Aufmerksamkeit sind die Grundnahrung für die Seele. Sie hinterlässt beim Kind die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, wie es die Entwicklungspsychologie nennt. Das heißt, es geht für das Kind darum, die Erfahrung machen zu dürfen, mit seinen Fragen, mit seinen Gefühlen, seinen Bedürfnis- und Willensäußerungen eine adäquate Reaktion und damit Resonanz oder Spiegelung bei seinem Gegenüber zu erzeugen. Auf der Basis dieser Selbstwirksamkeitserfahrung entwickelt sich das, was wir später Selbstbewusstsein oder Selbstsicherheit nennen. Die Folge mangelnder Resonanz kann ein Gefühl des Ausgeschlossenseins, des Nichtdazugehörens und damit des Fremdseins erzeugen.

Russenkinder wollen einfach nur die „Wahrheit“ wissen, sie wollen ihre „biologischen Wurzeln“ kennen. Wenn das nicht sein darf und die Kinder hier das Tabu spüren, beginnen sie, ihren Wissensdurst und damit einen wesentlichen Bestandteil des Kindseins von sich abzuspalten. Aus dem Ungehört-Sein wird ein „Unerhört!“, das moralisch Verwerfliche. Und das wird als Schuld gefühlt und behindert eine freie Entfaltung der Persönlichkeit.


Was bleibt?

Bei meiner Vatersuche habe ich ungeheures Glück und viele Helferinnen und Helfer gehabt, den unbekannten Teil meiner Familie zu finden und die drängende Frage nach meiner Herkunft zu beantworten. Ein großer Gewinn ist das Kennenlernen von anderen Betroffenen und derjenigen Menschen, die sich für unsere Schicksale interessieren. Unsere gemeinsamen und mitunter doch so unterschiedlichen Geschichten an die Öffentlichkeit zu tragen, sei es in Form von Publikationen, auf Tagungen oder in Gesprächen, gibt uns die Würde zurück, die uns durch das Verschweigen genommen wurde. Ein Gefühl der Dankbarkeit und Verbundenheit bleibt.


Literatur und weiterführende Literatur (abrufbar unter: www.russenkinder-distelblueten.de)


Winfried Behlau (Hg.): Distelblüten – Russenkinder in Deutschland. Ganderkesee 2015.


Eleonore Dupuis: Befreiungskind. Wien 2015.


Heide Glaesmer [u.a.]: Die Kinder des Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Ein Rahmenmodell für die psychosoziale Forschung. In: Trauma und Gewalt 6/2, 2012, S. 318-328.


Elke Kleinau/Ingvill C. Mochmann (Hg.:): Kinder des Zweiten Weltkrieges: Stigmatisierung, Ausgrenzung, Bewältigungsstrategien. Frankfurt/M./New York 2016.


Mathias Mesenhöller/Andreas Nestl: Liebe und Trauma: „Russenkinder“ erzählen erstmals von ihrem Schicksal. In: GEO 5/2015. S. 117-134.


Silke Satjukow/Rainer Gries: „Bankerte“. Besatzungskinder in Deutschland nach 1945. Frankfurt/m./New York 2015.


Barbara Stelzl-Marx/Silke Satjukow (Hg.): Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland. Wien/Köln/Weimar 2015.