Reinhard

Wir haben einen lieben Freund verloren.


Reinhard Distelblüte,  so nanntest du dich selbst


Völlig unerwartet erreichte uns die Nachricht seiner Familie von seinem Tod.

Nach einigen Jahren zunehmender Beeinträchtigung, von Schmerzen begleitet

hatte er sich noch im Sommer für eine OP entschieden, im Wissen, 

dass dies ein großes Risiko sein würde.

Wir haben mit ihm gebangt und die OP ging gut aus. 


"Seit Jahren endlich schmerzfrei" sagtest du kürzlich an deinem 74. Geburtstag am Telefon.


Wir hatten dir so sehr gewünscht, dass du es hättest länger genießen können.

Und ein bisschen Hoffnung hatten wir, dass wir uns noch einmal sehen würden,

im kommenden Frühjahr in Leipzig.

Es ist anders gekommen.


Du hast in deinen jungen Jahren viele Widrigkeiten erfahren müssen, 

weil du das Kind des Feindes warst.

Als du von deinem Großvater  die Wahrheit gesagt bekamst, machte dich das stark.

Du warst stolz, einen Vater zu haben, der den Roten Stern an der Mütze trug. 

Leider konntest du seine Spuren nicht finden.

Das Empfinden um diese Leerstelle teiltest du mit vielen von uns.


Ich bin traurig. Du warst mir ein lieber Freund 

und ich werde dich vermissen, deine Anrufe, deine Herzlichkeit

und deinen Humor.


Danke lieber Reinhard

Deine "Distelschwester" Birgrit

13. Dezember 2020

Reinhard

Geboren am 26. Oktober 1946

Verstorben am 10.Dezember 2020

Von Distelgeschwistern erreichten uns diese Zeilen:


... doch vorher möchte ich der Familie von Reinhard Bubig meine Anteilnahme aussprechen, ….


 …eine traurige Nachricht vor Weihnachten und wieder einer der von uns gegangen ist , mein herzliches Beileid an die Familie. 


 …Zeilen, wenn auch mit traurigem Inhalt. 
Auch wenn ich den Verstorbenen nicht kenne, möchte ich dem Sohn mein herzliches Beileid bekunden.

Es ist immer ein Verlust, wenn man einen nahen Verwandten verliert. 


Es tut mir sehr leid. Danke für die Nachricht.


Hier möchte auch ich (wir) unser Mitgefühl ausgrücken. Aufrichtiges Beileid


... wie traurig. Einer aus dem ganz harten Kern der Russenkinder, immer dabei.


Die Nachricht von Reinhard Bubigs Ableben überschattet nun auch meine Teilnahmebekundung zum nächsten Treffen. Seiner Familie gilt mein aufrichtiges Beileid. Leider wird deutlich, dass unser Dasein zeitlich begrenzt ist.

 



Gestorben ist nur, wer aus den Herzen und der Erinnerung geht.

Die Geschichte von  Reinhard wird bleiben.


Hier seine Worte aus "Distelblüten - Russenkinder in Deutschland"

Die Bestattung hat am 23. Januar 2021 im Friedwald Kalletal im engsten Kreis der Familie stattgefunden


In der Traueranzeige stand:

Anstelle freundlich zugedachter Kondolenzbriefe kann im Sinne von Reinhard für die Distelblüten - Russenkinder in Deutschland auf ein Sonderkonto bei der Sparkasse Herford gespendet werden.



Wir bedanken uns für die Zuwendung und werden die Arbeit im Sinne Reinhards fortsetzen.

Reinhard aus Ammendorf



Am 26. Oktober 1946 kam ich auf die Welt. Die Zeit vor meiner Geburt hatte in der Familie meiner Mutter für Unruhe gesorgt, denn mein Vater war ein russischer Soldat.

Die meisten Informationen über meine Herkunft bekam ich von meinem Grossvater mütterlicherseits. Das war aber erst nach meinem 15. Lebensjahr. Von meiner Mutter erfuhr ich insgesamt so gut wie nichts.

Mein Vater hielt sich – wie ich erfuhr – sehr oft in der Familie meiner Grosseltern auf. Meine Oma wusch seine Wäsche, bügelte seine Hemden und die Uniformen. Er gehörte irgendwie zur Familie. Meinem jüngsten Onkel gab er Nachhilfe in Mathe. Von meinem Opa wusste ich, dass er aus der Ukraine kam und seine Familie in Sewastopol ansässig war. Mein Vater war genau wie sein Vater als Ingenieur im Schiffbau tätig.

Irgendwann muss es dann passiert sein, dass meine Muter als 17jährige von ihm schwanger wurde. Als es sich nicht mehr verheimlichen liess, ging sie mit einer befreundeten Familie in den Westen. Dort kam ich am 26.10.1946 in Göttingen auf die Welt.Die Grosseltern sollten nicht wissen, dass ich unterwegs war.


In der Zeit, als ich mit meiner Mutter in Göttingen war, bekam mein Vater heraus, dass er einen Sohn im Westen hatte, er war zwischenzeitlich wieder nach Halle/Saale zurück gekommen. Er wollte mich holen, was ja nicht möglich war. Was damals so alles ablief, ist mir nicht bekannt. Als Beleg haben ich noch ein mit einem Bleistift verfasstes Telegramm von Halle nach Göttingen. Meine Mutter hat sich dann mit mir im Februar über die Grüne Grenze auf die Rückreise gemacht.


Von meinem Opa erfuhr ich im Nachhinein, dass sich mein Vater von allen verabschiedet hat und versetzt wurde. Das war es dann. Was für mich schlecht nachvollziehbar ist: Niemand konnte mir seinen Nachnamen und seinen Geburtstag sagen. Der Vorname ist Georgi.


Bis zum 6. Lebensjahr blieb ich bei meinen Grosseltern – das war meine schönste Zeit. Sie endete damit, dass ich zu meiner Mutter zurück musste. Sie war inzwischen nach Westfalen umgezogen und hatte meinen Stiefvater geheiratet.

Bei diesem Menschen traf ich nur auf Ablehnung. Damals wurde mir erklärt, dass er mein Vater sei. Das Verhältnis zu ihm war so schlimm, dass mich meine Grosseltern wieder nach Halle holten. Hier ging ich dann zur Schule und stellte fest, dass ich in einer anderen Welt war. Es war eine schöne Zeit bei den Grosseltern. Mein Opa hat viel mit mir unternommen und viel gezeigt.


Mittlerweile war mein Typ wieder im Westen gefragt. In der Zeit, als ich in Halle war, sind zwei Geschwister dazugekommen. Meine Aufgabe war es, auf sie aufzupassen wenn ich von der Schule heimkam.

Die Wohnsituation im Westen war eine andere – schlechtere – als in Halle. Wir wohnten in einem Bauernkotten: Kein fließendes Wasser, Plumpsklo, Strom nur in einem Zimmer und im Winter war es kalt. Mein Stiefvater war Knecht auf dem Bauernhof. Er stammte aus einer Familie mit acht Geschwistern. Bildungsmäßig war nicht viel vorhanden.


Schöne Erinnerungen aus meiner Kindheit dort gibt es kaum. Die Verhältnisse waren ärmlich, Geld und Kleidung waren knapp. Vor meinem Stiefvater hatte ich ständig Angst. Ich wusste nicht, wofür ich die Prügel bekam, die er mir verabreichte. So langsam wurde mir klar, dass etwas nicht stimmte.

Die ganze Familie meines Stiefvaters war mir suspekt. Sie waren hinterhältig und gemein. Wenn sie Geschenke mitbrachten, war für mich nichts dabei.

Mittlerweile waren auch meine Grosseltern aus Halle in den Westen gezogen. Da änderte sich das Klima etwas, vor meinem Opa hatte Hermann, der Stiefvater, Respekt. Aber Opa konnte ja nicht ständig in meiner Nähe sein.

Ich habe als Kind viel gelesen, meine Lieblingsliteratur waren Reiseberichte und alles was die Seefahrt betraf. Ich war ja genetisch vorbelastet.

In der Zeit nach meinem 13. Lebensjahr fiel mir leider erst jetzt auf, dass ich anders aussah als meine Geschwister. Ich hatte braune Augen, schwarze Haare und auch eine dunklere Haut, die auch im Winter nicht heller wurde. Wenn ich meine Mutter fragte, warum ich anders aussehe, gab sie mir keine Antwort oder sagte: „Das verstehst du nicht.“ Damit war das Thema wieder mal durch. Ich wusste immer noch nicht, dass in mir ein halber Russe steckte.


Nachdem ich unsere 3-klassige Dorfschule durchlaufen hatte, stand die Berufsausbildung an. Meinen Beruf habe ich mir nicht ausgesucht. In der Firma, in der ein Bekannte in der Eisengießerei arbeitete, suchten sie Stifte – heute Azubis.

So begann meine berufliche Entwicklung als Maschinenschlosser. Mein Grossvater hat mir den Beruf im Nachhinein schmackhaft gemacht.

Als Lehrling bekam ich im ersten Lehrjahr 90 DM, im zweiten 110 DM und im dritten Lehrjahr 120 DM und im letzten Halbjahr sogar 130 DM. Viel Spass hatte ich nicht damit: Ich musste alles abgeben. Mein Stiefvater verdiente als Knecht nur 120 DM im Monat. Hier kam seine Welt ganz schön ins Trudeln. Aber mein Geld wurde dringend benötigt. Die Familie bestand aus sechs Köpfen.


Als ich sechzehn Jahre alt war, besuchte ich meine Grosseltern. Wir sind zusammen am Tisch gesessen und er meinte, dass es an der Zeit ist, dass ich wissen müsse, von wem ich abstamme. Er sagte: „Jungele, dein Vater hatte einen roten Stern an der Mütze. Er war Angehöriger der Roten Armee.“ Da war ich mehr als überrascht. Opa erzählte welchen Beruf er hatte und das er fließend die deutsche Sprache beherrschte. Seinen Dienstgrad wusste er nicht. Er lief immer geschniegelt herum und hatte Sterne auf der Schulter und anderen Klimbim an der Jacke. Mein Opa mochte kein Militär.

Jetzt war ich richtig froh oder auch stolz. Endlich wusste ich, woher ich kam. Von meinem Opa bekam ich dann noch ein Foto von ihm. Er sieht da noch sehr jung aus und gleicht vom Aussehen her meinem jüngsten Sohn Benjamin.

Dass ich russische Wurzeln habe hat mich nicht weiter gestört. Ich kam gut damit klar. Mit meiner Mutter konnte ich nicht darüber reden, sie hat abgeblockt und bis zu ihrem Tod geschwiegen.


Jetzt wurde es Zeit, das Revier zu wechseln. Die Ausbildung war abgeschlossen, ich wurde 19 Jahre alt, die Bundeswehr drohte mit niedrigem Sold.

Ich bewarb mich beim Bundesgrenzschutz. Hier verbrachte ich eine schöne Zeit. Meine spätere Ehefrau lernte ich kennen. Aber das ist eine andere Geschichte.


Für mich war meine Herkunft keine Belastung. Mit der Situation und in dem Umfeld wo ich gelebt habe, musste ich klar kommen. Ich bin Einzelkämpfer geworden und habe mich immer durchbeißen müssen.


Als Nachkommen habe ich noch zwei Söhne, die jetzt 39 und 36 Jahre alt sind. Sie sind in ihren Berufen auf festen Füßen und sind auf dem richtigen Kurs.


Das war meine Geschichte, vielleicht kommt ja noch etwas nach.


Der Grund, diese Geschichte aufzuschreiben ist dieser: In meiner Heimatzeitung stand eine Notiz, dass die Uni Leipzig Russenkinder als Zeitzeugen sucht, um das Thema aufzuarbeiten. Es wurde ein Fragebogen erstellt und ausgewertet. Es kam zu einem Treffen in Leipzig im März 2014.

Diese Treffen war ein Erlebnis. Es war das erste Mal, dass ich mich mit Leuten austauschen konnte, die eine ähnlich Lebenserfahrung hinter sich hatten.