Norbert

Norbert


Die Frage an meine Mutter, warum ich einen anderen Familiennamen trug als sie, hatte sie irgendwann erwartet und auch befürchtet, klärte sich Weihnachten 1958. Da war ich bereits 11 Jahre alt.


Als Kind wunderte ich mich, daß ich keinen Vater hatte, aber vielen anderen Mädchen und Jungen ging es auch so.

Mutter und Oma erzogen mich in Liebe, obwohl ich als Junge nicht nur „artig“ war. Deshalb sei manche Ohrfeige auch verziehen, sie war dann verdient.


Kleinerweise sagte meine Oma immer „mein Pimmerl“ zu mir. Das war wohl ein Ausdruck aus dem Schlesischen.

Mutter weinte oft und die Gründe sind mir heute klar.


1995, mit 75 Jahren hat sie ihre Erlebnisse aufgeschrieben, als sie schon sehr krank war.

In großer Dankbarkeit möchte ich daraus passagenweise zitieren.


„Meinem lieben Sohn Norbert eine Niederschrift für seine Familie“.

Es war Weihnachten, der 1.Feiertag! Wir saßen alle auf dem Sofa! Es war in der Georgenstrasse. Ich weiß es noch wie heute! Du, lieber Norbert, fragtest: Mutti, warum heißt du „Runge“ und ich „Deinert“?

Auf so eine Frage hatte ich schon immer gewartet. Da habe ich dir „Alles“ gesagt. Wer dein Vater ist! Von der Vergewaltigung. Du hast so zugehört! Deine Antwort war: „Mutti, wenn das so ist, kannst du ja nichts dafür! Jetzt weiß ich es. Du drücktest mich sehr fest. Das tat mir sehr gut. Ich hatte seelisch so darunter gelitten, daß ich nie froh sein konnte.

Den Weihnachtstag werde ich nie vergessen.

Ich wollte, dass du Runge heißt, ich war auf dem Gericht, aber da ging kein Weg rein! So mußtest du Deinert heißen. Ich versuchte es dann, als du in die Schule kamst, aber da ging es auch noch nicht. Als du klein warst, hast du immer gedacht, Richard ist dein Vater.


Weiter schreibt sie:


Man könnte noch manches erzählen. Meinen Bericht werde ich nun beenden. Du hast so manches erfahren von meinem Leben. Wenn ich oft mal traurig bin und ich oft mal weine, das sind meine Nerven. Mein Leben ist nicht an mir spurlos vorbeigegangen. Es war die schwere Zeit.


Nach diesem Weihnachten 1958 sprach meine Mutter nicht mehr darüber. Es regte sie zu sehr auf, weil sie dann an ihre Zeit „davor“ dachte und weinte.

In ihrer Heimatstadt Schweidnitz, mit einer Garnison für Artillerie, Infanterie, Flieger und Arbeitsdienst, verbrachte Mutter mit Schwester und Bruder eine unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit. Ihr Vatel, ein Dachdecker, war 54 Jahre alt als sie 1920 geboren wurde. So hatte ich auch keinen Opa, denn er starb 1941 an einem Schlaganfall. Muttel wurde 1882 in Kreisau, dem Ort derer „von Moltke“ geboren. Hier wirkte neben Berlin und München die bürgerliche Widerstandsgruppe „ Kreisauer Kreis“, die sich mit Plänen einer politischen und gesellschaftlichen Neuordnung nach einem evtl. Zusammenbruch der Hitler-Diktatur befasste. Viele Angehörige dieses Kreises wurden nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 hingerichtet.


Mutti lernte ihren Richard noch vor dem Polenkrieg kennen. Diesen erlebte er als Soldat und wurde später nach Norwegen verlegt.

Bei einem Fronturlaub 1943 verlobten sie sich und beim nächsten im Juni 1944 heirateten sie. Diese für sie kurze glückliche Zeit, endete nach 5 Wochen, da die Front rief. Die Freude war groß, als Mutter ihrem Richard noch sagen konnte, dass er Vati wird. Ein vierblättriges Kleeblatt, welches er sonst immer auf der Wiese fand, suchte er in diesem Urlaub vergeblich.

Nach etlichen Wochen erhielt Mutti keine Post mehr von ihrem Mann, dagegen wurden viele Briefe zurückgeschickt mit der Aufschrift „Gefallen für Großdeutschland“.


Das war ihr erster schwerer Treffer! Die Freude über ihr Söhnchen von Richard, geboren im Februar 45, wehrte auch nicht lang. Diese Wochen waren bestimmt, von Bombardierungen der Stadt auch zu der Zeit der Entbindung, von Evakuierung der Einwohner weil die Front näher rückte, vom Überleben der Tieffliegerangriffe auf die Züge, welche mit den Menschen bis in die Tschechei fuhren. Diese Irrfahrt ging wieder zurück nach Schlesien und endete vorerst in Giersdorf.


„Mein lieber Peter wurde Sonntag krank! Die Ärztin kam. Er hatte Brechdurchfall. Was die Ärztin verschrieb, bekam Runge Muttel nicht in der Apotheke. So wurde Peter immer schwächer. Er war wie Haut und Knochen. Es tat uns so weh. Ich war immer bei Peter und man konnte nicht helfen. Am 01. 06. Früh machte Peter seine Augen zu“.


Das war ihr zweiter Treffer!

Nicht einmal ein Bild von Peter ist ihr geblieben, da Mutter auf dem Transport die Koffer geklaut worden.

Jeder musste wieder an seinen Heimatort. Unterwegs haben wir noch viel erlebt. Von Waldenburg bis Schweidnitz mussten wir laufen, es fuhr kein Zug. Als wir in unsere Wohnung kamen war diese offen und geplündert. Das war Juli 1945. Es war eine schlimme Zeit. Wir Frauen, die keine Kinder hatten, mussten sich jeden Tag auf dem Arbeitsamt melden. Dort wurden wir von den Russen eingesetzt. Was da alles passierte war furchtbar. Ich musste auf den Flugplatz. Die Gräben die offen waren, mussten wir wieder zuschaufeln. Ab 21.00 Uhr durfte keiner mehr auf die Straße. Die Russen ließen uns erst vor 21.00 Uhr weg. Es war eine halbe Stunde wo wir daheim waren. Da mussten wir rennen. Lottel Wolf war ja in unserem Haus groß geworden, ihre Muttel starb 1946 im März. Lottel hatte eine Wohnung auf der Richthofenstraße. Sie arbeitete dort bei einem russischen Offizier. So hatte Lotte mir bei einem russischem Offizier auch eine Stelle versorgt, daß ich nicht mehr auf den Flugplatz brauchte. Er war sehr anständig. Ich war paar Monate dort. Ich räumte dort auf und wusch seine Wäsche. Viel konnte er ja nicht sprechen. Er war so Ende „20“. Er sagte dann, er kommt nach Hause. Ich machte noch seine Wäsche. Den anderen Tag ging ich hin und machte sauber. Da hatte er Schnaps getrunken und er vergewaltigte mich. Was da geschah kann ich nicht wiedergeben! Er hatte die anderen, die Frauen vergewaltigt hatten, immer verurteilt. Es war furchtbar. Den Tag bin ich bei Lotte geblieben. Ich war zu aufgeregt. Nächsten Tag kam er fort. Ich habe mich nicht mehr sehen lassen.


Das war ihr dritter Treffer!

Im Juli 46 wurden wir evakuiert. Lotte ging auch mit ihren Buben mit uns. Wir fuhren alle zusammen. In Niederoderwitz waren wir 14 Tage in der Quarantäne. Da ging der Zug nach Sachsen. Es wurden immer Leute ausgeladen. Unser Zug waren dann die drei letzten Wagen.

Gegen 22.00 Uhr kamen wir in Werdau an.


Mutter beschreibt dann diese Zeit in der „Schön-Fabrik“, in dem Lager wo sie auf Stroh schliefen. Hier wurde Mutter krank, es bestand Typhusverdacht. Zwei Monate lebten sie dort. Danach bekamen sie auf der Holzstraße ein Zimmer.


Ich hatte nicht mehr meine Periode. Vielen Frauen ging es auch so. Ich ging zum Frauenarzt.

Er sagte mir, was mit mir los ist! Da ging ich schon in den 4. Monat. Lotte drückte mich fest und tröstete mich. Ich ging dann nach Hause. Ich hatte Muttel nichts gesagt, dass ich vergewaltigt worden bin. So musste ich ihr jetzt unter vielen Tränen alles erzählen, was passiert war. Sie tröstete mich, litt mit mir und wir trugen das Schwere gemeinsam.

Am 23. März, Sonntag früh, kurz vor sieben Uhr, die Glocken läuteten, da kamst du mein lieber Norbert zur Welt. So traurig wie ich die ganze Zeit war, du fingst gleich an zu schreien. Du warst gesund und wir freuten uns auch. Bei Peter wurde ich genäht nach der Entbindung. So konnte ich danach nicht lange stehen. Ich hatte einen Gebärmuttervorfall, mir war als käme unten alles raus. Durch die Entbindung ging alles zurück, und ich war durch dich wieder gesund. Nach acht Tagen bist du getauft wurden. Du hast dich gut entwickelt. Wir freuten uns, dass du da warst.

Wir hatten dich sehr lieb.


Bezogen auf diesen Satz hatte ich eine unbeschwerte Kindheit, auch wenn die Nachkriegszeit nicht alle Wünsche ermöglichten.

Auf Fragen antwortete ich mit „Vater unbekannt“ und später mit „er war Russe“. Das ich Repressalien nicht ausgeliefert war, lag bestimmt an der deutsch-sowjetischen Freundschaft in der DDR. Jedoch Nachforschungen zur Herkunft waren sinnlos. Lange nach Weihnachten 1958 zeigte mir Mutter eine Meldekarte mit dem Namen des Vaters. Die Handschrift ist schwierig zu lesen.

Ob sich Nachforschungen heute noch lohnen? Interessant wäre für mich, der weitere Lebensweg des Vaters und seiner Familie.

Nicht meine, sondern die Lebensgeschichte meiner Mutter ist erwähnenswert, weil sie das Drama der Kriegsfolgen aufzeigt, dessen die Menschen ausgesetzt waren und kaum darüber reden konnten.