Marie Luise

Hoffnung  - noch 71 Jahre danach

 

Sind sie nicht sympathisch und liebenswert die fröhlichen „Jungs“ dort auf dem Parkbank-Foto? Dabei, sie haben auf ihrem tausende Kilometer langen Weg vom Ural, wie sie erzählten,  bis hierher so viel Schreckliches erlebt, so viele Strapazen ertragen. Da muss ihnen in diesem Bilderbuch-Frühling 1946, als diese Fotos entstanden, das Landwirtschafts-Gut Orpensdorf (bei Osterburg bzw. Stendal in Sachsen-Anhalt) wie ein kleines Paradies erschienen sein. In dem es auch junge Frauen gab - vom Arbeitsamt hierher beordert, um unter sowjetischer Hoheit auf den Feldern  Kartoffeln, Zwiebeln, Kohl usw. zur Versorgung  sowjetischer Truppen (z.B. Motschützen-Division in Stendal. Einheit in Klein-Rossau) anzubauen. Bei der Arbeit und abendlichem Tanz zu Akkordeonklang kamen sich manche junge Frauen und Soldaten näher. Noch dazu, wo es hier familiär zuging. Man nannte sich beim Vornamen: der gutmütige Unterleutnant  Nikolai (Kolja), der gut Deutsch konnte, der nette Sibirier (?) Pjotr, die Köchin Vera, die auch etwas Deutsch konnte . . . Und schließlich der Gebildetste,  der temperamentvolle, schwarzhaarige Anatoli aus der Ukraine (?) ,  der Kapitän (Hauptmann, Leutnant?), der die Befehlsgewalt hatte, auch Deutschkenntnisse und hin und wieder zur Kommandantur nach Osterburg  fuhr.


War er mein Vater, wie eine damalige Küchenfrau, von der ich die Fotos erhielt, mir vor etwa zehn Jahren erzählte?


Meine Mutter arbeitete und wohnte im Gut vom 1.7.1945 bis Sommer `46. Dann hörten die Eintragungen in ihrem Arbeitsbuch auf. Im Januar 1947 kam ich zur Welt. Dem Standesbeamten, der die Geburt beurkundete, verweigerte meine Mutter die Auskunft über den Kindsvater. So steht es in meiner Original-Geburtsurkunde. Die bekam ich aber erst, als ich  meine Rentenunterlagen  zusammenstellte. Da war meine Mutter längst verstorben – wie auch andere Zeitzeugen.

Dies und das konnte ich noch durch zahllose Telefonate und Gespräche  mit Menschen aus Orpensdorf, Osterburg und Stendal, Verwandten, ehemaligen Nachbarn und Archiven erfahren.


Auch durch den Befehl Nr. 88 der SMAD vom 18.03.1946. Danach sollten in der sowjetischen Besatzungszone Kinder registriert werden, die eine deutsche Mutter und einen Angehörigen der Vereinten Nationen als Vater hatten. In der Liste meiner Heimatstadt O. stand mein Name und Geburtsdatum an dritter Stelle von sechs. In der Rubrik „Staatsangehörigkeit des Erzeugers“ war „Rußland“ angegeben. Bei Beruf, Name, Wohnort, Geburtsort des Erzeugers jeweils „unbekannt“. Letztlich war lediglich klar: Ich bin ein Russenkind. Entstanden aus einer Liebesbeziehung. So verwöhnt und umsorgt wie ich von meiner Mutter wurde, brauchte es  keinen anderen Beleg, wie z. B. von einer sieben Jahre älteren Cousine. Sie erinnerte sich an die Besuche des „Russsen“ in Begleitung meiner Mutter (weil er Bonbons mitbrachte). Auch ehemalige Nachbarn bestätigten, ich sei der Augapfel meiner Mutter gewesen.

Aber wer war mein Vater? Der „Beweis“ der Küchenfrau in Richtung Anatoli überzeugte nicht.


Jetzt bin ich 71 – und habe eine neue Hoffnung. Beim jüngsten Treffen der Russenkinder-Distelblüten, an dem ich erstmals teilnahm, berichtete Winfried u. a.  von  russischen Zugriffen auf die Website der Gruppe. Vielleicht, vielleicht, vielleicht – so meine Idee – erinnern sich  Betrachter der Fotos, diese schon mal bei Bekannten gesehen zu haben: auf dem Küchenbord, im Foto-Album, beim Kriegsveteranen-Treffen. Oder eventuell kennt der Betrachter jemanden, der 1945/46 in Orpensdorf bzw.  in der Nähe (z. B. Stendal, Osterburg, Rönnebeck, Rossau) stationiert war. Wenn dieser nicht mehr lebt, dann dessen Kinder, denen der Vater  einiges  erzählte. Und vielleicht  kommt es so zu dem Zufall der Zufälle, gibt mir, meinen Töchtern und Enkeln die Gewissheit: Der da, oder einer der gar nicht auf den Fotos ist, das war dein Vater. Das war euer Großvater, das euer Urgroßvater. Eure recht annehmbaren Gene habt ihr auch von ihm.  - Auf das Eintreten dieses Zufalls hofft von Herzen im 71. Lebensjahr  

                           Marie-Luise, April 2018

  

 PS: Sollte dies nicht glücken, wäre ich aber auch dankbar für Hinweise zur Zuordnung der Uniformen  bzw.  Waffengattung, ebenso für die Nennung einer Website  sowjetischer Kriegsveteranen.

 

Bildunterschriften

Parkbank-Foto:

War es eine Feier mit Flieder zur ersten Wiederkehr des Tags des Sieges über Hitler-Deutschland? Oder posierte man nur für den Fotografen  vor der Jasminhecke im Gutspark?

 

Foto Verlobungsfeier:

Die Verlobung des deutschen Paares (Bildmitte) wurde im Gut von allen gefeiert.

 

Foto Mädchen im Park:

Die Frage der Fragen  für mich: Welche der jungen Frauen wurde mit welchem Soldaten  ein Paar?